Montag, 3. Dezember 2012

Gruppenbild mit Dame

Wenn einem schon aufgrund der momentanen Lebenssituation so viele Ebenen des Smalltalks verwehrt bleiben, so möchte man zumindest hin und wieder mit überheblichem Gesicht die Bildungsbürgerin darstellen. Was gibt es schöneres als mit einem gekonnten Zitat das Gegenüber wieder in seine Schranken zu verweisen. Nicht nur Bildungsbürgerin. Auch Kleinbürgerin. Deswegen ein unerschrockener Griff in die Zauberkiste der deutschen Literatur und siehe da - etwas Wunderbares.



Meine Erfahrungen mit Heinrich Böll sind so gut wie nicht vorhanden. Das mag jetzt alle überraschen, die schon zu Schulzeiten sämtliche Böll Werke zumindest einmal in der Hand gehalten haben und sich  auch heute nicht weigern wieder mal eins in ihre physische Nähe zu lassen.
Ich habe keine Entschuldigung für meine Vernachlässigung und werde doch eine vorbringen: meine Deutschlehrerin. Lese- sowie unterrichtsfaul wurden wir von ihr irgendwann mit dem Film zum Buch beglückt und in meiner Erinnerung war das eine mehr als trockene Angelegenheit (auch hier wahrscheinlich ein Fehlurteil). Jedenfalls kam ich irgendwie nie auf die Idee Böll zu lesen.

Und dafür kann ich mich, nachdem ich "Gruppenbild mit Dame" gelesen habe, eigentlich nur ohrfeigen. In Wahrheit war es mehr ein Aufstampfen und der 182 Fluch Richtung Schulbildung. Aber meine Schuld. Ich hatte mehr als genug Zeit und Gelegenheit mein Versäumnis aufzuholen. Niemand zwingt einen stattdessen fünf mal hintereinander die Harry Potter Reihe zu lesen.



"... das Mädchen ist ein Phänomen. Man wußte nie so genau, ob sie sehr tief ist oder sehr flach - und es mag widersprüchlich klingen: ich glaube, sie ist beides, sehr tief und sehr flach, nur eins ist sie nicht und nie gewesen: ein Flittchen. Das nicht. Nein."

Gruppenbild mit Dame also - die Geschichte von Leni: Russenliebchen, Genie der Sinnlichkeit,  mit einer unverzichtbaren Vorliebe für frische Brötchen.  Dabei tritt sie selbst als Person nur einmal auf. Man lernt sie über die Menschen in ihrer Umgebung kennen, mit denen der "Verfasser" im Zuge seiner Leni-Recherche Gespräche führt. Dabei kann sich kaum jemand ("Verfasser" und Leserin eingeschlossen) ihrer Anziehungskraft entziehen. Und während man da Leni immer mehr lieben lernt, entsteht gleichzeitig ein Bild der deutschen Gesellschaft der kleinen Leute mit ihren Gaunern, Verbrechern und Unschuldigen während und nach dem zweiten Weltkrieg. Durch Bölls unaufgeregte Erzählweise werden die Schrecklichkeiten oft noch schrecklicher, aber er hilft seiner Leserschaft mit seinem trockenem Humor oft über die diversen Ungeheuerlichkeiten hinweg. Dabei ist nie etwas bemüht oder platt, sondern liebevoll und voller phantastischer Einfälle.
Als Beispiel für die unheimliche Dichte der Erzählung ist hier nur eine kleine Nebengeschichte von drei bis vier Seiten angeführt: Lenis Vater führt während des 2. Weltkriegs eine Scheinfirma, in der er angebliche russische Kriegsgefangene arbeiten lässt. Die russischen Namen hat er gekauft, völlig ahnungslos, dass ihm dabei Namen von russischen Autoren untergejubelt wurden. Aufgedeckt wird der Betrug schließlich von einem beim Finanzamt arbeitenden Philologen namens Scholsdorff, dessen Spezialgebiet die russische Literatur des 19. Jahrhunderts ist. Dieser Scholsdorff leidet wahnsinnig unter der Vorstellung, dass seine literarischen Helden zu einer solch unpassenden Arbeit gezwungen werden - er muss Nachforschungen anstellen. Dabei wird er wiederum entdeckt und wird so zum Hauptzeugen der Anklage gegen Lenis Vater. Diese grandiose Idee hat mich während dem Lesen zu einem (bei weitem nicht meinem einzigen) Freudentänzchen angestiftet.

Jedenfalls sollte man, wenn man wie ich bisher jede Gelegenheit Böll zu lesen arrogant in den Winde geschlagen hat, zumindest Gruppenbild (wie ich es inzwischen liebevoll nenne... so gut sind wir inzwischen miteinander) eine Chance geben.
Und in meinen mehr oder minder zahlreichen Gesprächen, werde ich sexuelle Begebenheiten ab jetzt nur mehr als Heidekrauterlebnisse bezeichnen. Klingt viel ansprechender als die meisten Vokabel, die einem die deutsche Sprache in diesem Fall zur Verfügung stellt. Genug Heidekrauterlebnisse für alle!






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